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40. Stuttgarter Fortbildungsseminar

 

Akteure des medizinischen Marktes

Verhandlungen, Konflikte und Professionalisierungsprozesse 

 

Stuttgart, 16. Juni – 18. Juni 2021

 

Die andauernde CoViD-19 Pandemie eröffnet spannende Einblicke in die Mechanismen des medizinischen Marktes und der Gesellschaft, die vergleichbar zu Krankheitsausbrüchen der Vergangenheit sind. Neben der wissenschaftlichen Erforschung des neuen Virus, werden vor allem Debatten über die Deutungshoheit dieser Pandemie und der verhältnismäßigen Reaktionen geführt. Antworten auf die drängenden Fragen der Menschen erbrachten viele: ob Politiker, Mediziner, Naturheilkundler, Homöopathen oder auch Verschwörungstheoretiker. Alle etablieren ein Narrativ, das ihre Weltsicht bestätigt und mögliche Behandlungsmethoden und „richtige“ Verhaltensweisen untermauert. Die Öffentlichkeit wurde so teilweise mit sich widersprechenden Meldungen zu den Formen, Symptomen und Heilungsaussichten von CoViD-19 konfrontiert. Interessanterweise ist diese weltweite Pandemie in den Ländern wie den USA oder Deutschland ferner zum Kristallisationspunkt der schon vorher vorhandenen Spaltung der Gesellschaft geworden. Dabei zeigt sich, wie eine Krankheit das soziale Gefüge und auch das politische System ins Wanken bringen kann. Der „medizinische Markt“ ist hier oftmals der Austragungsort, an dem unterschiedliche Akteurinnen und Akteure ihre Interessen vertreten und durchsetzen wollen. In diesem Netzwerk von medizinischen Verhandlungen und Wissensproduktionen darf der Einfluss der Patientinnen und Patienten als „Konsumierende“ auf die Vielfältigkeit des medizinischen Marktes nicht unterschätzt werden.

Im Angesicht einer tödlichen, unheilbaren Krankheit ist es nur menschlich, wenn möglichst viele verschiedene Angebote des medizinischen Marktes in Anspruch genommen werden, um doch noch dem Unausweichlichen zu entgehen. Erkrankten mit Schwindsucht standen im 19. Jahrhundert dafür beispielsweise unzählige Heilsversprechen zur Verfügung. Auch wenn die Nutzung vieler dieser Angebote von der sozialen und finanziellen Situation sowie der Bildung abhing, betraten Patientinnen und Patienten den medizinischen Markt als aktiv Handelnde. Lange galt, dass Erkrankte nach Eintritt in das „Arzt-Schwester/Pfleger-Patienten-Verhältnis“ eine passive Rolle einnehmen und den Anweisungen der Expertinnen und Experten folgen müssten. Jedoch ist diese Ansicht verkürzt, wie bereits Roy Porter, Robert Jütte und andere feststellten, da Erkrankte im Falle von Enttäuschung, Heilmisserfolgen und anderen Problemen in der Behandlung aktiv nach Alternativen suchen. Ob Sanatorien in den Schweizer Alpen oder die Anpreisung neuer Heilmittel in den Tageszeitungen, der Markt der medizinischen Heilsversprechen war und ist groß und bleibt ein umkämpftes Feld. Der Grund dafür ist, dass es dabei für die einzelnen Anbieter immer auch um Geld und Prestige in der Gesellschaft geht. 

Die wichtigste Entwicklung in diesem Bereich war die Durchsetzung der sogenannten „Schulmedizin“ mit Hilfe ärztlicher Standesorganisationen und die Verdrängung von als nicht dazu gehörenden weiteren „alternativen Heilangeboten“ am Ende des 19. und Anfang des 20. Jahrhunderts. Nicht zuletzt durch die rasche Entwicklung und Differenzierung der medizinischen Forschung und Behandlungsmöglichkeiten sahen sich Ärzte mit Universitätsausbildung nicht nur als unabkömmlich für die Gesellschaft. Sie betrachteten ihr Expertentum auch als unpolitisch und objektiv, sodass es anderen Heilverfahren, wie der als „Kurpfuscherei“ denunzierten Homöopathie und Naturheilkunde, überlegen wäre. In der ständigen Auseinandersetzung mit den staatlichen Behörden, beispielsweise im Hinblick auf die Einführung der gesetzlichen Krankenkassen in Deutschland 1883, festigte sich der soziale Zusammenhalt innerhalb der Ärzteschaft, wodurch sie mit Hilfe von Streiks und anderen Formen des Protestes oftmals ihre Standesinteressen durchsetzen konnten. Der Antagonismus zwischen Staat und dem medizinischen Expertentum besteht jedoch bis in die Gegenwart. Neue Reformen, wie die Ökonomisierung des Gesundheitswesens oder die Übernahme von homöopathischen Leistungen durch die Krankenkassen, führen immer wieder zu Konflikten, da das medizinische Personal seine Unabhängigkeit gefährdet sieht.

Jedoch war der medizinische Markt in seiner Ausprägung immer stark differenziert. Je nach Gesellschaftsform, medizinischen Kenntnissen, Arten von Krankheiten, Mentalitäten und religiösen Vorstellungen, befassten sich unterschiedliche Gruppen von Professionen innerhalb einer Gemeinschaft mit der Gesundung der Mitmenschen. Für das 40. Stuttgarter Fortbildungsseminar 2021 soll diese Problematik mit unterschiedlichen Ansätzen und Methoden für verschiedene Epochen beleuchtet werden. Als Vorschlag und Anregung sind daher folgende Themengebiete denkbar, welche weder den Anspruch der Vollständigkeit besitzen, noch als Ausschlusskriterien betrachtet werden sollen. Andere, dem Thema im weitesten Sinne verwandte Fragestellungen und Projekte sind gern willkommen.

Natürliche Heilung – Religiöser Glauben – Medizinischer Pluralismus

Dieser mögliche Themenblock soll sich mit dem la longue durée des humoralmedizinischen Verständnisses von Körper und Krankheit, das seit der Antike bis ins 19. Jahrhundert andauerte, beschäftigen. Der medizinische Markt und seine Akteurinnen und Akteure befanden sich meist außerhalb institutionalisierter Grenzen und deren Inanspruchnahme war abhängig von der lokalen Verfügbarkeit. Heilung von Erkrankungen des Körpers und der Seele geschah zu Hause, in Klöstern, Kirchen, an Schreinen und anderen Orten und wurde mit Kräuterheilkunde, selbstgemachten Pillen und Bandagen, Diäten, Magie, Gebeten, Relikten und klassischen humoralen Therapien, wie Aderlass, durchgeführt. Die Vielfalt zu untersuchen soll die Fluidität und den Eklektizismus zwischen den unterschiedlichen Akteursgruppen hervorheben und sich nicht nur Dichotomien zwischen z. B. Elite—Volk, Medizin—religiöser oder indigener—westlicher Heilkultur und -praktiken konzentrieren. Was war das leitende Prinzip hinter den vielgestaltigen Ansätzen der magischen, heilkundlichen oder religiösen Heilungen und welche Rolle spielten deren aktiv Handelnde auf dem medizinischen Markt? Welche Verdrängungsprozesse und Konflikte zwischen Akteursgruppen bestimmten das jeweilig lokale Angebot? Wie vollzogen sich Entscheidungsprozesse von Erkrankten sich auf ein bestimmtes Heilungsangebot einzulassen? Ein weiterer wichtiger Aspekt sind die globalen und lokalen Netzwerke und die Zirkulation von Wissen über Heilung durch Handel oder Kolonisation. Auch hier wären Themen möglich, die den Austausch von medizinischem Wissen und Heilpraktiken in den Kolonien in Nord- und Südamerika mit der indigenen Bevölkerung analysieren und ihre lokalen als auch globalen Auswirkungen auf dem medizinischen Markt nachgehen.

Professionalisierung und Konfliktfelder in der Pflege

Medizinische Versorgung ist undenkbar ohne Gesundheits- und Krankenpflege. Bis heute hält sich vielfach die Vorstellung, dass letztlich die ärztliche Autorität die Arbeit der Pflegekräfte organisiert und regelt. Die Professionalisierung der Krankenpflege im 19. Jahrhundert und zuletzt ihre zunehmende Akademisierung in westlichen Ländern seit Mitte des 20. Jahrhunderts können als Bestrebungen gelesen werden, die Pflege von der Medizin zu emanzipieren. Historische Perspektiven auf die Pflege legen auch die Interaktion verschiedener gesellschaftlicher Akteursgruppen offen. Mit der zunehmenden Feminisierung der Krankenpflege über das 19. Jahrhundert orientierten sich spätere Konfliktaushandlungen auch entlang zeitgenössischer politischer Organisation für Frauenrechte. So war die Gründung der bürgerlich geprägten „Berufsorganisation der Krankenpflegerinnen Deutschlands (B.O.K.D.)“ im Jahr 1904 zur Stärkung der Interessen der pflegerischen Freiberuflerinnen durch Agnes Karll maßgeblich von der ersten Frauenbewegung inspiriert. Wie lässt sich die Nutzbarmachung von politisch-aktivistischen Infrastrukturen in medizinischen Arenen historisch verorten? In heutigen Debatten um den „Wert der Pflege“ (Kramer 2019) und feministischen Konzepten wie der Care Ökonomie, die ihre Ursprünge mindestens im Zweite-Welle-Feminismus haben, geht es auch nicht nur um die monetäre, sondern immer auch um die gesellschaftliche Wertschätzung feminisierter sowie migrantisierter Fürsorge-Tätigkeiten. Daher könnte in diesem Themenblock der Frage nachgegangen werden, welche längere Traditionslinien existieren, die Stellung der Pflege in der heutigen Versorgungslandschaft bestimmen. Darüber hinaus wären die Machtverhältnisse in unterschiedlichen Epochen und transnationalen Vergleichen zu analysieren, die nicht nur den Zugang zum, sondern auch Verhandlungen, Auseinandersetzungen und Widerstände innerhalb des medizinischen Marktes strukturierten und organisierten. 

Nicht-menschliche Akteure auf dem medizinischen Markt

In der neueren Wissenschaftsgeschichte und STS-Studien betonen Historikerinnen und Historiker die Rolle nicht-menschlicher Akteure in der Wissensproduktion. Als letzter Themenvorschlag könnte diskutiert werden, inwieweit auch auf dem medizinischen Markt nicht-menschliche Akteure in der Vergangenheit Einfluss nahmen. Zum Beispiel haben Antibiotika nicht nur die medizinische Behandlung revolutioniert, sondern auch die bakterielle Evolution gesteuert und dadurch die Umwelt verändert. Daher sollte nicht nur von einer Geschichte der Biologie gesprochen werden, sondern auch von einer Biologie der Geschichte: menschliches Handeln ist eng mit der Biologie und der Umwelt verknüpft und verwoben, was sich gerade in der Pandemie gezeigt hat. Können Arzneimittel daher als Akteure betrachtet werden, die nicht nur auf dem legalen und illegalen Markt zirkulieren, sondern auch Rückwirkungen auf die medizinische Wissensproduktion haben? Beispielsweise haben blutdruck- und cholesterinsenkende Medikamente eine wichtige Rolle in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts gespielt, um die neuen Risikodiagnosen wie Hypertonie oder Hypercholesterinämie zu produzieren. Ein interessanter Aspekt könnte in dem Zusammenhang sein, inwieweit rezeptfreie Medikamente den Markt beeinflussten, einige Akteure verdrängte und andere, wie die pharmazeutische Industrie, florieren ließ? Darüber hinaus haben Medizin- und Wissenschaftshistorikerinnen und -historiker argumentiert, dass Medien in modernen Gesellschaften nicht nur eine Rolle als Verbreiter und Verteiler medizinischen und wissenschaftlichen Wissens spielen, sondern auch daran mitbeteiligt waren und sind, Wissen zu produzieren, legitimieren und zu zirkulieren. Von Handbüchern und Forschungstagebüchern, über Massenmedien wie Film, Fernsehen, Radio bis hin zu Laborgerät, Algorithmen und Gesundheitsapps, welche neuen Perspektiven entstehen, wenn wir Medien, gefasst im weitesten Sinne, als selbständige Akteure auf dem medizinischen Markt betrachten? 

Solche und ähnliche Fragestellungen sollen im 40. Stuttgarter Fortbildungsseminar des Instituts für Geschichte der Medizin der Robert Bosch Stiftung im Zentrum stehen. Nachwuchswissenschaftlerinnen und Nachwuchswissenschaftlern soll hierbei die Gelegenheit gegeben werden, die Potentiale in der Forschung über das Wechselspiel zwischen Akteurinnen und Akteuren des medizinischen Marktes für die Medizingeschichte auszuloten und ihre eigenen Forschungsprojekte zu präsentieren.

Organisatorisches

Das Stuttgarter Fortbildungsseminar des Instituts für Geschichte der Medizin der Robert Bosch Stiftung hat sich in den nunmehr 39 Jahren seines Bestehens zu einem interdisziplinären Forum für Nachwuchswissenschaftlerinnen und -wissenschaftler entwickelt, das sich von klassischen Fachtagungen unterscheidet. Zentrales Anliegen sind der Austausch und die inhaltliche Auseinandersetzung mit dem Thema der Tagung. Der Fokus liegt daher auf innovativen methodischen Herangehensweisen, neuen Fragestellungen und Ideen und weniger auf perfekt ausgearbeiteten Präsentationen. Aus diesem Grund sind die Titel der Literaturliste nur als Leseanregung zu verstehen, nicht etwa als Pflichtlektüre.

Vor Beginn der Tagung werden die Abstracts zu den einzelnen Vorträgen an alle Teilnehmenden versandt, um eine bessere Vorbereitung zu ermöglichen. Für jeden Beitrag wird ausreichend Diskussionszeit zur Verfügung stehen. Unbedingt erforderlich ist die Anwesenheit aller Teilnehmerinnen und Teilnehmer während der gesamten Tagung, um inhaltliche Bezüge zwischen den Beiträgen zu ermöglichen. Nicht zuletzt dient die Tagung auch der Vernetzung von Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern in einem frühen Stadium ihrer Karriere. 

Das Seminar findet voraussichtlich als Präsenzveranstaltung vom 16. bis 18. Juni 2021 in Stuttgart statt. 

Anmelden können sich Einzelpersonen und Arbeitsgruppen (vorzugsweise zwei Personen). Die Anzahl der Teilnehmenden ist auf etwa 12 Personen begrenzt. 

All diese Angaben sind jedoch abhängig vom weiteren Pandemiegeschehen, sodass die Veranstaltung auch zu Hybridformen oder einer reinen Online-Tagung umgewandelt werden kann.

Auswahl und Moderation

Die Auswahl der Beiträge, die Gestaltung des endgültigen Programms und die Moderation der Sektionen liegen in den Händen einer Vorbereitungsgruppe, die aus den Teilnehmenden des vorjährigen Fortbildungsseminars hervorging. Für das 40. Fortbildungsseminar haben sich Trine Gaarde Outzen (Lund), Ketil Slagstad (Oslo/Berlin) und Lukas Herde (Strasbourg) bereit erklärt. Die Auswahl der Teilnehmenden wird von den Mitgliedern der Vorbereitungsgruppe anhand anonymisierter Vorschläge vorgenommen.

Vorträge, Diskussion und Kostenerstattung

Für jeden Beitrag sind 45 Minuten eingeplant, wobei max. 20 Minuten für den Vortrag zur Verfügung stehen und 25 Minuten für die Diskussion. Bei Arbeitsgruppen erhöht sich das Zeitbudget für den Vortrag und die anschließende Diskussion auf eine Stunde. Die Tagungssprache ist Deutsch, die einzelnen Vorträge können allerdings auch auf Englisch gehalten werden. Die Teilnahme wird vom Institut für Geschichte der Medizin der Robert Bosch Stiftung finanziert. Dies schließt die Übernachtungen, gemeinsame Mahlzeiten und Bahnreisen 2. Klasse (in Ausnahmefällen günstige Flüge) ein. Kosten für eine Anreise per PKW können leider nicht erstattet werden.

Anmeldung

Ein Exposé von max. einer Seite, aus dem Titel, Fragestellung, Methoden und verwendete Quellen sowie mögliche Thesen/Ergebnisse hervorgehen, senden Sie bitte bis zum

4. April 2021

per Post oder E-Mail (gerne als Word-Datei) an Dr. Markus Wahl, Institut für Geschichte der Medizin der Robert Bosch Stiftung, Straußweg 17, D-70184 Stuttgart respektive markus.wahl@igm-bosch.de.

Darüber hinaus soll dem Exposé eine Kurzvita beigefügt werden.

 

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39. Stuttgarter Fortbildungsseminar

Medizin und
Idealvorstellungen von Körper und Verhalten

Stuttgart, 1. April – 3. April 2020

 

Der „perfekte Look“, der „ideale Body“, das „richtige Verhalten“: Egal ob durch „Influencer“ in den Sozialen Medien, den verstärkten (Schwarz-)Markt an Hormonen und Steroiden zum Muskelaufbau oder die Erwartungen des sozialen Umfeldes, überall werden Menschen mit Deutungen des „Idealen“ konfrontiert. Inwieweit diese Vorstellungen eine Person beeinflussen, ist immer davon abhängig, ob sie mit sich selbst, ihrem Körper, ihrem Aussehen und auch mit ihrem Verhalten zufrieden ist und ein gewisses Selbstbewusstsein hinsichtlich ihrer Persönlichkeit und ihres Erscheinungsbildes entwickelt hat. Denn der angedeutete gesellschaftliche Rahmen kann oft dazu führen, dass Menschen überzogene Erwartungen an sich selbst stellen, um bestimmten Schönheitsidealen, wie dem Sixpack oder der schlanken Taille, und sozialen Ansprüchen, wie dem alltäglichen Funktionieren, zu entsprechen. Der Drang, genügend „Likes“ auf sozialen Plattformen und Dating-Apps zu erhalten oder im beruflichen Leben voranzukommen, kann schlimmstenfalls in Essstörungen, Suchtverhaltensweisen, Depressionen und Suizid enden.

Idealvorstellungen existieren auch in der Medizin, da deren Akteure Teil der Gesellschaft sind und ihre Ansichten, Vorurteile und Mentalität in ihre alltägliche Praxis hineintragen. Schon der Begriff des „Normalbefundes“, der einen medizinisch-definierten Idealzustand ohne „pathologische“ Abweichungen beschreibt, entscheidet über den Gesundheits- und Krankheitsbegriff und somit über das Patient- oder Andersartig-Sein eines Menschen. Diese oftmals idealen Kenngrößen, die auch „Behinderungen“ bestimmen, werden durch wissenschaftliche Erkenntnisse in zielgerichteten öffentlichen Kampagnen und Ausstellungen über Gesundheitsverhalten definiert und in die Bevölkerungen mehr oder weniger erfolgreich hereingetragen. Ein Beispiel hierfür sind Studien, die eine zu starke Abweichung vom „Normalgewicht“ mit einem höheren Risiko von Herz-Kreislauf-Erkrankungen und von Diabetes Typ-II in Verbindung bringen. In diesem Zusammenhang hat der Begriff der „Selbstoptimierung“ mit Hilfe von Gesundheits-Apps in den letzten Jahren stark zugenommen. Krankenversicherungen gehen teilweise sogar dazu über, mit Hilfe dieser Anwendungen ein Anreizsystem zu schaffen, das Menschen zu „richtigem“ Gesundheits- und Essverhalten erzieht. Ohne hier ins Detail zu gehen, bedienen und fördern auch Ärztinnen und Ärzte die Sicht der Gesellschaft auf das erstrebenswerte Ideal, das weit über die Bestimmung von Gesund- und Krank-Sein hinausgehen. Nicht zuletzt aus monetären Interessen wird beispielsweise für ein „schönes Lächeln“ mit geraden, weißen Zähnen oder auch durch Schönheitsoperationen sowie Fettabsaugungen geworben, die das schnelle Erreichen des vermeintlichen Idealzustandes versprechen. Auch Werbung und Modeschöpfer kreieren Schönheitsideale, die wiederum dazu führen, dass die Medizin entsprechende Angebote schafft und diese von Menschen, die die Schönheitsideale verinnerlicht haben, in Anspruch genommen werden.

Der Umfang der medizinischen Eingriffe mit dem Zweck, das Aussehen, den Körper und das Verhalten von Menschen verschiedenen Idealvorstellungen näher zu kommen, hat in den letzten Jahrzehnten stark zugenommen. Trotzdem ist es kein ausschließlich modernes Phänomen. Der Reiz, den Menschen in seiner Beschaffenheit zu optimieren und einem vermeintlichen Idealzustand näherzubringen, zieht sich vielmehr durch die gesamte Geschichte. Zum Beispiel setzten schon griechische Stadtstaaten wie Sparta und Athen auf Optimierungsstrategien, um ihre Vormachtstellung mit Hilfe von Reproduktionsrichtlinien, den Primat der körperlichen Stärke und der Erziehung zur Tapferkeit zu sichern. Anfang des 17. Jahrhunderts schrieb der italienische Philosoph Tommaso Campanella in seinem Buch über den „Sonnenstaat“, dass das sogenannte „Ministerium für Liebe“ auch Haartracht, Kleidung und somit das Aussehen seiner Untertanen überwachen sollte. Durch die geplante Fortpflanzung, etwa durch die Anordnung von Beischlaf zwischen schlanken und übergewichtigen Menschen, sollte eine Verbesserung der „Menschenrasse“ erwirkt und selbstsüchtiges Verhalten verhindert werden. Im 19. Jahrhundert übten schließlich die Arbeiten von Charles Darwin und deren Anwendung auf soziale Phänomene durch Francis Galton, nicht zuletzt zur wissenschaftlichen Untermauerung und Sicherung bestehender Machtverhältnisse zwischen Frau und Mann oder verschiedenen „Menschenrassen“, einen großen Einfluss auf medizinische Forschungen aus. Diese dienten schließlich zur Beschreibung eines gesellschaftlichen Idealzustandes und legitimierten staatliche Eingriffe in die Bevölkerung mit eugenischen Maßnahmen gegen die Degeneration des sogenannten „Volkskörpers“.

Allen diesen Optimierungsbestrebungen gemeinsam war die Suche nach einer historisch spezifischen Form des perfekten Menschen. Die Medizin verlieh diesen unterschiedlich gearteten Unterfangen neue, umfassendere Autorität insofern, als dass sie diesen eine angeblich objektive Grundlage gab. Es handelte sich somit immer um ein Wechselspiel von Politik, Gesellschaft und Medizin im jeweiligen sozio-politischen Kontext, in welchen zum Beispiel neue Erkenntnisse in den Naturwissenschaften neue Möglichkeiten und Erwartungen der Gesellschaft hinsichtlich der Idealvorstellungen generierten. Aber auch die Bestreben der Bevölkerung sowie kulturelle und soziale Ansprüche hinsichtlich der Körperbeschaffenheit, des Aussehens oder des idealen Verhaltens wurden in die medizinische Forschung und Praxis hineingetragen.

Für das 39. Fortbildungsseminar 2020 soll diese Problematik mit unterschiedlichen Ansätzen und Methoden für verschiedene Epochen beleuchtet werden. Als Vorschlag und Anregung sind daher folgende Themengebiete denkbar, welche weder den Anspruch der Vollständigkeit besitzen noch als Ausschlusskriterien betrachtet werden sollen. Andere, dem Thema im weitesten Sinne verwandte Fragestellungen und Projekte sind gern willkommen.

Medizin und „Medikalisierung“

Schon der seit Michel Foucault und Ivan Illich gängige Begriff der „Medikalisierung“ im Zusammenhang mit den Idealvorstellungen von Körper und Verhalten in einer Gesellschaft wirft viele Probleme der Definition und Anwendbarkeit auf. Historisch gesehen stellt sich die Frage, ob und ab wann von einer „Medikalisierung“ zum Beispiel der körperlichen Beschaffenheit und Abweichungen in Form von „Behinderungen“ gesprochen werden kann? Oder ist dieser Begriff, um die Verwissenschaftlichung des Sozialen zu beschreiben, überhaupt brauchbar? Im Endeffekt geht es um die Verflechtung der wissenschaftlichen Medizin und gesellschaftlichen Autorität, welche in einem komplexen Zusammenspiel die Idealvorstellungen zu verschiedenen Zeitpunkten für unterschiedliche Gruppen von Menschen festlegten. Problemstellungen könnten sich der Frage widmen, welche Akteure in den einzelnen Epochen diese Ideale vorschrieben, mit welchen Mitteln diese umgesetzt wurden und welche Rolle die Medizin darin spielte. Damit ist klar, dass das zu bearbeitende Feld groß und oftmals mit dem Begriff der „Biopolitik“ verbunden ist. Wie schon in dem erwähnten Beispiel der Antike ging es oftmals um eine nationale Leistungsfähigkeit, sei es für Kriegsanstrengungen, Expansion oder die Erhöhung der Produktivität in den Fabriken. In diesen Zusammenhängen kam immer die Medizin ins Spiel, welche sich mit den Körpern in welcher Form auch immer auseinandersetzten und nach den jeweiligen Idealvorstellungen „bearbeiteten“. Aber auch die „Medikalisierung“ von unten, von den Menschen selbst und deren Forderungen und Ansprüche an die Medizin, könnte in diesem Themenblock beleuchtet werden.

Aussehen und Körper

Die sozio-kulturellen Prozesse, in denen Körperbilder entstehen, sind, wie schon angedeutet, hoch komplex. In der Vergangenheit widmeten sich immer verschiedene Gelehrte und Wissenschaftler dieser Frage. Ein Beispiel dafür ist die auf die Galenische Säftelehre basierende Physiognomik die schon seit der Antike darauf baut, dass Äußerlichkeiten wie Gesichtszüge einen sicheren Aufschluss über den Charakter eines Menschen geben sollen. Daher muss zunächst gefragt werden, welche Idealvorstellungen von Körpern es gab, wer sie definierte und wie sie sich im Laufe der Geschichte veränderten. Darin spielten immer Abgrenzungsprozesse, der Inklusion und Exklusion von „Andersartigen“ oder „Anderaussehenden“, für die Bestimmungen des „idealen“ Körpers oder Aussehens eine wichtige Rolle. Wie kann diese Faszination von Aussehen und vor allem von „Behinderungen“, wie sie sich beispielsweise im Umgang mit dem „Elefantenmann“ Joseph „John“ Merrick zeigt, als epochenübergreifendes Merkmal erklärt werden? Welche Auswirkungen hatte die körperliche, teilweise von dem sozialen Umfeld als „drastisch“ empfundene Abweichung von den Idealvorstellungen für den Betroffenen? Wurde die Person als Patient oder eher als Objekt für Forschung und die Öffentlichkeit angesehen (Stichwort Panoptikum)? Wie gingen die Betroffenen mit „Deformationen“, sozialer Stigmatisierung, etc. selbst um, bzw. wie bauten sie ihre „Andersartigkeit“ in ihre Lebensgeschichte ein (Individualisierung)? Im Umkehrschluss stellt sich die Frage nach den Erfahrungen der Personen mit als perfekt gehandelten Körpern bzw. Aussehen. Auch die Idealisierung kann zu Problemen für die Betroffenen führen, sobald diese Perfektion durch Alterungsprozesse, Unfälle, Verletzungen und ähnlichen nicht mehr aufrechterhalten werden kann. Daher könnte das mögliche Ziel dieses Themenblocks sein, eine differenzierte Betrachtungsweise von Körpern und Aussehen in der Vergangenheit zu erreichen ohne eine einseitige Fokussierung auf „Abweichungen“ vorzunehmen.

Verhalten

Verhalten ist immer eine heuristisch sehr schwer zu fassende Kategorie, da sich die Definitionen des Idealen noch mehr als bei Körpern in einen fluiden Zustand befinden. Ort, Zeit, soziales Umfeld und andere Faktoren bestimmen in diesem Fall die Verhaltensidealvorstellungen, welchen sich die Akteure in der Interaktion beugen müssen (Goffman). Jedoch wird in der Forschungsliteratur oftmals nur abweichendes Verhalten und die „Pathologisierung“ des „Abnormen“ thematisiert, nicht zuletzt da diese Fälle in den Archiven meist gut dokumentiert sind. Kritik der Psychiatrie und der Praxis der Einweisungen von Menschen, die den Idealvorstellungen von Verhaltensweisen nicht genügen, sind aber nur ein Bestandteil des Wechselspiels von Medizin und menschlichem Verhalten. Wenn man Verhalten als menschliche Reaktion auf die Umwelt versteht, eröffnen sich weitere mögliche Problemfelder. Inwiefern wurden Verhaltensweisen wie der Schlaf, die Entspannung, die Essgewohnheiten, der Umgang mit Stress bzw. Gesundheitsverhalten im Allgemeinen in der Medizin und der Bevölkerung in den einzelnen Epochen zu Idealgrößen erklärt? Wie wurden diese Verhaltensweisen im Umgang mit Krankheiten durch die Betroffenen selbst internalisiert und angewendet? Strategien der Gesunderhaltung und Verhaltensregeln unterscheiden demnach auch immer gemäß Geschlecht und anderen sozialen sowie kulturellen Faktoren. Diese zu untersuchen, dabei das medizinische Personal, staatliche Akteure und auch die mehr oder weniger betroffenen Menschen einzubeziehen, könnte ein Ziel dieses Themenblocks sein.

Solche und ähnliche Fragestellungen sollen im 39. Stuttgarter Fortbildungsseminar des Instituts für Geschichte der Medizin der Robert Bosch Stiftung im Zentrum stehen. Nachwuchswissenschaftlerinnen und Nachwuchswissenschaftlern soll hierbei die Gelegenheit gegeben werden, die Potentiale in der Forschung über das Wechselspiel zwischen der Medizin und den gesellschaftlichen Idealvorstellungen von Körper und Verhalten von Menschen für die Medizingeschichte auszuloten und ihre eigenen Forschungsprojekte zu präsentieren.

Organisatorisches

Das Stuttgarter Fortbildungsseminar des Instituts für Geschichte der Medizin der Robert Bosch Stiftung hat sich in den nunmehr 38 Jahren seines Bestehens zu einem interdisziplinären Forum für Nachwuchswissenschaftlerinnen und -wissenschaftler entwickelt, das sich von klassischen Fachtagungen unterscheidet. Zentrales Anliegen ist der Austausch und die inhaltliche Auseinandersetzung mit dem Thema der Tagung. Der Fokus liegt daher auf innovativen methodischen Herangehensweisen, neuen Fragestellungen und Ideen und weniger auf perfekt ausgearbeiteten Präsentationen. Aus diesem Grund sind die Titel der Literaturliste nur als Leseanregung zu verstehen, nicht etwa als Pflichtlektüre.

Vor Beginn der Tagung werden die Abstracts zu den einzelnen Vorträgen an alle Teilnehmenden versandt, um eine bessere Vorbereitung zu ermöglichen. Für jeden Beitrag wird ausreichend Diskussionszeit zur Verfügung stehen. Am Vormittag des ersten Tages wird ein Workshop stattfinden, in welchen sich die Teilnehmer über theoretische und methodische Fragen zu dem Thema auseinandersetzen. Ziel ist es, anhand von Beispielen, den Erfahrungen und der Expertise der Teilnehmer eine gemeinsame Ausgangsbasis für die weiterführenden Diskussionen zu schaffen. Unbedingt erforderlich ist daher die Anwesenheit aller Teilnehmerinnen und Teilnehmer während der gesamten Tagung, um inhaltliche Bezüge zwischen den Beiträgen zu ermöglichen. Nicht zuletzt dient die Tagung auch der Vernetzung von Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern in einem frühen Stadium ihrer Karriere.

Das Seminar findet vom 1. April – 3. April 2020 in Stuttgart statt. Die Anreise erfolgt obligatorisch bereits am 31. März für das abendliche Kennenlernen.

Anmelden können sich Einzelpersonen und Arbeitsgruppen (vorzugsweise zwei Personen). Die Anzahl der Teilnehmenden ist auf etwa 15 Personen begrenzt.

Auswahl und Moderation

Die Auswahl der Beiträge, die Gestaltung des endgültigen Programms und die Moderation der Sektionen liegen in den Händen einer Vorbereitungsgruppe, die aus den Teilnehmenden des vorjährigen Fortbildungsseminars hervorgeht. Für das 39. Fortbildungsseminar haben sich Isabel Atzel (Stuttgart), Leander Diener (Zürich) und Patrick Schmidt (Hamburg) bereit erklärt. Die Auswahl der Teilnehmenden wird von den Mitgliedern der Vorbereitungsgruppe anhand der anonymisierten Vorschläge vorgenommen.

Vorträge, Diskussion und Kostenerstattung

Für jeden Beitrag sind 45 Minuten eingeplant, wobei max. 20 Minuten für den Vortrag zur Verfügung stehen und 25 Minuten für die Diskussion. Bei Arbeitsgruppen erhöht sich die zur Verfügung stehende Zeit auf eine Stunde. Die Tagungssprache ist Deutsch, die einzelnen Vorträge können allerdings auch auf Englisch gehalten werden. Die Teilnahme wird vom Institut für Geschichte der Medizin der Robert Bosch Stiftung finanziert. Dies schließt die Übernachtungen, gemeinsame Mahlzeiten und Bahnreisen 2. Klasse (in Ausnahmefällen günstige Flüge) ein. Kosten für eine Anreise per PKW können leider nicht erstattet werden.

Anmeldung

Ein Exposé von max. einer Seite, aus dem Titel, Fragestellung, Methoden und verwendete Quellen sowie mögliche Thesen/Ergebnisse hervorgehen, senden Sie bitte bis zum

12. Januar 2020

per Post oder E-Mail (gerne als Word-Datei) an Dr. Markus Wahl, Institut für Geschichte der Medizin der Robert Bosch Stiftung, Straußweg 17, D-70184 Stuttgart respektive markus.wahl@igm-bosch.de.

Darüber hinaus soll dem Exposé eine Kurzvita beigefügt werden.

 


 

For the Conference Report by Jutta Braun, see:

Tagungsbericht: Sozialgeschichte des Gesundheitswesens der DDR. Reflektionen über Organisation, Politik und Akteure in der sozialistischen Gesundheitsversorgung, 09.07.2018 – 10.07.2018 Stuttgart, in: H-Soz-Kult, 18.02.2019, <www.hsozkult.de/conferencereport/id/tagungsberichte-8114>.

 


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Tagung

Sozialgeschichte des Gesundheitswesens der DDR

Reflektionen über Organisation, Politik und Akteure in der sozialistischen Gesundheitsversorgung

Institut für Geschichte der Medizin der Robert Bosch Stiftung, Stuttgart

 

Programm

Montag, 9. Juli 2018

12:30-

 

13:00

Begrüßung

 

Kurzvorstellung der Teilnehmer

Sektion I:

Der Patient im Gesundheitswesen der DDR

Chair: Robert Jütte (Stuttgart)

13:00-

 

13:40

Markus Wahl (Stuttgart)

 

„Verboten war das Alkoholtrinken, aber da es welchen im Betrieb gab…“:
Die Erfahrungen und Behandlung von alkoholkranken Patienten in der DDR

13:40-

 

14:20

Steffi Brüning (Rostock)

 

Weibliche Sexualität als medizinisches Problem? Die Geschlossenen Krankenanstalten in der DDR

14:20-

 

14:35

Pause
14:35-

 

15:15

Anja Werner (Halle-Wittenberg)

 

Die HNO und der hörgeschädigte Patient in der DDR

15:15-

 

15:55

Florian Bruns (Halle-Wittenberg)

 

Die Eingabe – ein Instrument der Patienten-Partizipation im Gesundheitswesen der DDR?

15:55-

 

16:25

Pause

Sektion II:

Andere Akteure im staatlichen Gesundheitswesen der DDR

Chair: Martin Dinges (Stuttgart)

16:25-

 

17:05

Stefan Dörre (Düsseldorf)

 

Zwischen Autonomie und staatlicher Kontrolle: Die medizinisch-wissenschaftlichen Gesellschaften der DDR

17:05-

 

17:45

Christian König (Halle-Wittenberg)

 

„Arbeite mit, plane mit, regiere mit“? Zur Rolle intermediärer Eliten im Gesundheitswesen der DDR

17:45-

 

18:00

 Pause
18:00-

 

18:40

Pierre Pfütsch (Stuttgart)

 

Der Krankentransporteur: Ein Beispiel staatlich gesteuerter Professionalisierung?

18:40-

 

19:00

Zwischenfazit

 

mit Wolfgang U. Eckart (Heidelberg) und Winfried Süß (Berlin)

19:30 Gemeinsames Abendessen

Dienstag, 10. Juli 2018

Sektion III:

Gesundheitliche Erziehung und Aufklärung in der DDR

Chair: Sylvelyn Hähner-Rombach (Stuttgart)

9:30-

 

10:10

Christian Sammer (Heidelberg)

 

Traditionen, Strukturmerkmale und Entwicklungslinien der Gesundheitsaufklärung in der DDR

10:10-

 

10:50

Stefan Offermann (Leipzig)

 

„Nun ist sogar das Fernsehen gesundheitsfördernd?!“ – Fernsehen und Herzkreislauferkrankungen in der DDR, 1960er-70er Jahre

10:50-

 

11:05

Pause

Sektion IV:

Therapie und Betreuung psychischer Erkrankungen in der DDR

Chair: Pierre Pfütsch (Stuttgart)

11:05-

 

11:45

Ekkehardt Kumbier (Rostock)

 

Die Brandenburger Thesen zur „Therapeutischen Gemeinschaft“ (1974/76)

11:45-

 

12:25

Christine Hartig (Stuttgart)

 

Ein glokaler Blick auf die Erprobung eines Antidepressivums an der Universitätsklinik Jena in den 1980er Jahren

12:25-

 

13:25

Gemeinsames Mittagessen
13:25-

 

14:05

Livia Bremmel (Hamburg)

 

Psychische Erkrankungen als Kriegsfolge bei Soldaten und Heimkehrern nach dem Zweiten Weltkrieg in der SBZ und frühen DDR (1945-1952)

14:05-

 

14:45

Anette Baum (Hachenburg)

 

Unterstützung von Wehrdienstpflichtigen beim Berliner Jungmännerwerk als Beispiel psychosozialer Beratung in der DDR

14:45-

 

15:00

Abschlussdiskussion und Ausblick  

 

mit Wolfgang U. Eckart (Heidelberg) und Winfried Süß (Berlin)


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CfP

Tagung

Sozialgeschichte des Gesundheitswesens der DDR

Reflektionen über Organisation, Politik und Akteure in der sozialistischen Gesundheitsversorgung

Stuttgart, 09. Juli – 10. Juli 2018

 

In den vergangenen Jahren haben einige Autoren durch einschlägige Werke (Siehe z.B. Harsch 2012, 2013; Leo und König 2015; Linek 2016; Madarász-Lebenhagen 2013; Reinisch 2013) auch für das Gesundheitswesen der DDR eine neue Art der Sozialgeschichte erschlossen. Mit dem Fokus auf den Patienten nicht nur als Objekt, sondern auch als Akteur in der Staat-Arzt-Schwester-Patienten-Beziehung auf lokaler Verhandlungsebene haben nicht nur DDR Historiker neue Wege innerhalb der Geschichtsforschung eingeschlagen. Nach den 1990er und 2000er, die teilweise von parteiischen Auseinandersetzungen geprägt waren, ist diese Entwicklung in dem generellen Trend zu verorten, einen „Mittelweg“ zwischen apologetischen und verurteilenden Ansätzen zu finden.

Ein wichtiger Aspekt dieses Trends ist die Überwindung der starren, konstruierten Wendepunkte wie 1945, 1961, 1971 und 1989/90, welche zahlreiche Studien der Vergangenheit zugrunde lagen. Das Ziel der Tagung ist es, die DDR nicht als singuläres Phänomen zu untersuchen, sondern sie als Produkt von Traditionen, Kontinuitäten, Brüchen und Entwicklungen zu betrachten, die sich oftmals bis ins 19. Jahrhundert zurückdatieren lassen. Für die Medizingeschichte der DDR bedeutet dies, dass Mentalitäten, Konzepte, Gesetze und (medizinische als auch soziale) Behandlungspraktiken nicht nur Erfindungen des sozialistischen Staates nach 1945 waren, sondern im Gegenteil ein oftmals bewusster Rückgriff auf mehr oder weniger bewährte Ansätze der Vergangenheit darstellten. Dies gilt nicht nur für die staatliche Ebene, sondern findet sich auch im Lokalen wieder.

Daher soll bei der Tagung den folgenden Fragen nachgegangen werden:

  • Welche Erfahrungen haben Patienten innerhalb und außerhalb der Einrichtungen des Gesundheitswesens der DDR gemacht und waren diese spezifisch sozialistisch?
  • Haben die lokale Situation bzw. die Notwendigkeiten vor Ort die Umsetzung ideologischer, organisatorischer, rechtlicher und medizinischer Vorgaben, ob von deutscher oder sowjetischer Seite, limitiert?
  • Hat sich das Arzt-Schwester-Patienten-Verhältnis im Sinne des Sozialismus verändert, z. B. zu gleichberechtigter Partnerschaft, als ‚mündige, sozialistische Persönlichkeiten‘?
  • In wieweit konnten der einzelne Arzt, die Krankenschwester oder die Pflegekraft, welche die Entnazifizierung überstanden hatte, weiterhin ihre tradierten medizinischen und sozialen Ansichten in der alltäglichen Praxis anwenden?
  • Wie haben nichtärztliche medizinische Berufe sich in der Übergangsphase und während der Zeit der DDR behauptet?
  • Welchen Einfluss hatte diese personelle und ideelle Kontinuität, z. B. eugenischer Sichtweisen, auf die Behandlungen und Erfahrungen von Patienten in der Nachkriegszeit und darüber hinaus?
  • Wie haben sich die sprachlichen, rechtlichen, organisatorischen und medizinischen Konzepte des Deutschen Reiches, der Weimar Republik und des Dritten Reiches auf die Etablierung des sozialistischen Gesundheitswesens ausgewirkt?

Anhand solcher Leitfragen, die als Anregung zu verstehen sind, sollen neue, innovative und ggf. interdisziplinäre Ansätze vorgestellt und diskutiert werden, welche eine differenzierte und historisierende Perspektive auf das DDR Gesundheitswesen ermöglichen.

Folgende Themenschwerpunkte sind dabei denkbar:

  • Die Gesundheitspolitik zwischen Anspruch und Realität, zwischen Stadt und Land, zwischen den einzelnen Bezirken
  • (sozialistische) Krankheitskonzepte und ihre gesellschaftliche, kulturelle und medizinische Definitionen
  • (sozialistische) Behandlungsformen, medizinisch und sozial, innerhalb und außerhalb medizinischer Einrichtungen
  • Einrichtungen des Gesundheitswesens, wie Krankenhaus, Ambulatorium, Poliklinik und andere, und die damit verbundenen medizinischen und sozialen Konzepte
  • Nichtärztliche Gesundheitsberufe, wie Krankentransporteure, Pflegekräfte, oder Physiotherapeuten, und ihre Integration und Stellung im sozialistischen Gesundheitswesen
  • Medizinische Aufklärung und Präventionsstrategien in der DDR, mit Hilfe von Ausstellungen, Filmen, Postern (vor allem des Deutschen Hygiene Museums in Dresden, aber auch der DEFA)
  • Das Arzt-Schwester-Patienten-Verhältnis im Sozialismus
  • Die Ausarbeitung der sehr unterschiedlichen Selbst- und Fremdwahrnehmung von Patienten, im Verhältnis zwischen individueller Narrative und medizinischen Berichten
  • Die Darstellung des Patienten als Akteur, durch Eingaben, Einverständniserklärungen, Beschwerden, und andere aktive Handlungen

Andere, verwandte Themenstellungen sind willkommen.

Organisatorisches

Die Tagung findet vom 09. bis 10. Juli 2018 am Institut für Geschichte der Medizin der Robert Bosch Stiftung in Stuttgart statt.

Für jeden Beitrag sind 45 Minuten eingeplant, wobei max. 20 Minuten für den Vortrag zur Verfügung stehen und 25 Minuten für die Diskussion. Vor Beginn der Tagung werden die Abstracts zu den einzelnen Vorträgen an alle Teilnehmenden versandt, um eine bessere Vorbereitung zu ermöglichen. Für jeden Beitrag wird ausreichend Diskussionszeit zur Verfügung stehen. Unbedingt erforderlich ist die Anwesenheit aller Teilnehmerinnen und Teilnehmer während der gesamten Tagung, um inhaltliche Bezüge zwischen den Beiträgen zu ermöglichen.

Weiterhin werden Experten aus dem Feld der DDR Geschichte eingeladen, welche die Diskussionen zu den einzelnen Beiträgen und dem Ziel der Tagung mit ihren Erkenntnissen und Sichtweisen ergänzen.

Die Teilnahme wird vom Institut für Geschichte der Medizin der Robert Bosch Stiftung finanziert, das schließt die Übernachtungen, gemeinsame Mahlzeiten und Bahnreisen 2. Klasse (in Ausnahmefällen günstige Flüge) ein. Kosten für eine Anreise per PKW können leider nicht erstattet werden.

Anmeldung

Vorschläge für Beiträge in Form eines kurzen Abstracts (max. 300 Wörter), aus dem Titel, Fragestellung, Methoden und verwendete Quellen sowie mögliche Thesen/Ergebnisse hervorgehen, senden Sie bitte zusammen mit einem kurzen CV (ca. 10 Zeilen)

bis zum 30. April 2018 per Post an

Markus Wahl, Institut für Geschichte der Medizin der Robert Bosch Stiftung, Straußweg 17, D-70184 Stuttgart

oder per E-Mail an markus.wahl@igm-bosch.de.